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Gabi Zimmer „Was
haben die Grenzen der EU mit ‚kulturellen Identitäten’ und ‚europäischen
Werten’ zu tun? Dürfen sich Linke
auf eine Debatte über ‚kulturelle Identitäten’ und ‚europäische
Werte’ einlassen?“ Ich
kann der Studentin H., Fach Kulturwissenschaft, die auch beim Sommerfest der
Familie Wolf war, nachfühlen, wenn sie sagt, dass sie „das Gerede von den
europäischen Werte unerträglich arrogant“ finde. Schließlich ist das, was
uns aus den Mainstream-Medien entgegen redet, Abgrenzung:
Die europäische Kultur wird als ganz besondere beschrieben, ohne dass fundiert
geprüft wird, ob sich das „ganz Besondere“ vielleicht auch in anderen
Kulturen findet. Und spätestens nach Auschwitz und den durch Deutsche
verbrannten sowjetischen Dörfern kann man wohl kaum überzeugend erklären,
dass die Feinde Europas einfach außerhalb Europas zu suchen seien. Und was heißt
„außerhalb Europas“, wo doch Europa keine natürlichen Grenzen hat. Werte
haben etwas mit Wunsch, Emotion und Bindung an eine Tradition zu tun. Ja, es wäre
glatt gelogen, würde ich nicht eingestehen, dass ich eine Regung spüre, wenn
ich Rosa Luxemburg lese. Selbst wenn sie eine Sprache gebraucht, die nicht meine
ist, wie: „Arbeiter! Liebknechts Sache ist eure Sache. “ Ich habe auch ein
inneres Verhältnis zu meinem, zu unserem geltenden Parteiprogramm, in dem zu
lesen ist: „Sozialismus ist für uns
ein Wertesystem, in dem Freiheit, Gleichheit und Solidarität, Emanzipation,
Gerechtigkeit, Erhalt der Natur und Frieden untrennbar miteinander verbunden
sind.“ Durch
die Bindung an die Tradition, die dieses Wertesystem „Sozialismus“
hervorgebracht hat, fühle ich mich keineswegs eingeschränkt. Freiheit,
Gleichheit und Solidarität, Emanzipation, Gerechtigkeit, Erhalt der Natur und
Frieden sind für Millionen Menschen attraktiv und begründen seit mehr als
zwei Jahrhunderten individuelles Verhalten und kollektiven Kampf. Ich will sagen, dass
Werte mit starken Emotionen verknüpfte Vorstellungen von dem sind, was Menschen
wünschen. Freiheit,
Gleichheit und Solidarität, Emanzipation, Gerechtigkeit, Erhalt der Natur und
Frieden sind mir wichtig,
weil ich eine Gesellschaft will, in der die
freie Entfaltung eines und einer jeden als Bedingung für die freie Entfaltung
aller gilt. Und so komme ich auf
die europäischen Werte zurück. Wenn ich das, was ich an
Hand der sozialistischen Werte entwickelt habe, nehme, stehen zwei Fragen: Zum
einen: Was für ein Europa, was für eine
EU sind wünschenswert bzw. welches EU-Europa wünschen wir uns, wünsche
ich mir? Zum anderen: Welcher kulturellen
Tradition sehen wir uns, sehe ich mich verbunden? „Freiheit“ ist
der am meisten genannte, angeblich für Europa typische Wertekomplex. Das wird
mit der griechisch-römischen Tradition oder der christlich-jüdischen Tradition
begründet. Und da fallen mir gleich drei Kommentare ein: -
Es wäre schön, hätten Antisemitismus und Antijudaismus keinen Platz in
Europa. -
Wer meint mit „Freiheit“ die Freiheit von wem? Wie war das mit den
europäischen Sklaven und den Menschen in den europäischen Kolonien? -
Man kann doch nicht einfach die christlich-jüdische Tradition auf Europa
beschränken! Es ist also nicht so
einfach mit Freiheit als „europäischem“ Wert. Das hat dann dazu geführt,
dass einige moderne Denker meinten, dass unter den Bedingungen der
Globalisierung eher die Frage nach der „neuzeitlichen Identität“ zu stellen
wäre. Schließlich sei Europa Vorreiter der Moderne. Und Charles Taylor nannte
„Innerlichkeit“, „Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens“ und
„Selbstverwirklichung“ europäische Werte. Damit habe ich
Probleme und frage gleich, ob zur „Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens“
gehört, dass eine kleine europäische Elite, den Menschen in Afrika
lebenswichtige Ressourcen abzieht, ihnen Giftmüll exportiert und die Folgen der
eigenen Produktion von klimaschädigenden Gasen auflädt? „Selbstverwirklichung“
und Aufklärung gehören zusammen und ich denke an totalitäre Diktaturen im
Europa des 20. Jahrhunderts. Und denke an Christa Wolfs
Studentin der Kulturwissenschaften und frage: Ist es nicht voll verfehlt, von
„der europäischen Wertegemeinschaft“ zu sprechen? Ist die Rede von der
„kulturellen Identität Europas“ daneben? Ich greife zu Karl
Jaspers, der 1949, im Gründungsjahr der DDR, erklärt hatte, dass zwischen 800
und 200 vor Christus alle großen Weltregionen weitgehend unabhängig
voneinander entstanden sind. Das spricht eher dafür, die Kommunikation über
ihre Gemeinsamkeiten und den Einfluss des Buddhismus und Islam auf Europa zu führen
als künstlich europäische Werte aus der mehr gewünschten als tatsächlich
vorhandenen christlich-jüdischen Tradition abzuleiten. Diese Bemerkung soll
nun keinesfalls als eine Absage an die Suche nach Motiven eines Glaubens
verstanden werden, die Bedeutung für den Wertediskurs haben können. Aber es kann keine direkte
Übersetzung christlicher Motive in politische Ethik geben. Welche politischen
Organisationsformen sollten denn durch Religionen akzeptiert werden, wenn die
Angehörigen einer Religion sozial ungleich und sich gegensätzlichen Klassen
zuordnen? Das Streben nach
Freiheit ist in Klassenauseinandersetzungen geboren worden und ich denke schon,
dass auf Grund der Athener Polis und der kapitalistischen Entwicklung das
Freiheitsstreben in Europa eine besondere Spezifik hat. Aber das Freiheitsstreben in Europa steht nicht für Freiheit als
ausschließlich europäischen Wert. Nach „Freiheit“
sind „Vielfalt“ und „Rationalität“ die meistgenannten Werte Europas und
ich denke an die Rationalität, mit der „ethnische Säuberungen“ vollzogen
und die Vernichtung von Menschen, Völkern, Bevölkerungsgruppen organisiert
wurden. Allerdings weiß ich gerade
wegen dieser Gedanken alles wert- und verteidigungswert zu schätzen, was mit
dem Widerstand dagegen zu tun hat, sei er von religiösen Menschen oder
Atheisten geleistet. Als in der DDR
Geborene gelte ich entsprechend dem arroganten Mainstream erst seit 1990 als
Europäerin. Die Sowjetunion und ihr Einflussbereich waren außereuropäisch.
Was Menschen, die dort geboren und aufgewachsen sind, vollbracht haben, gerade
im Krieg gegen den deutschen Faschismus gehört sehr wohl zur europäischen
Geschichte. Wer in Hitlers KZ und im GULAG gelitten hat – ich kenne mehrere,
die noch in Russland und in der Ukraine leben – hat von Freiheit geträumt und
für Freiheit gekämpft. Sie und er gelten hierzulande nicht als Europäerin und
Europäer. Für die Schwarzen,
die Indios und die vielen anderen ethnischen Gruppen in den Ghettos, die Opfer
von Sklaverei und Kolonialismus sind Freiheit, Vielfalt, Rationalität,
Innerlichkeit, Wertschätzung des gewöhnlichen Lebens und Selbstverwirklichung
Begriffe, die sie mit gleichen, ähnlichen und völlig anderen Assoziationen wie
wir, wie ich verbinden. Ich will sagen: „die
europäischen Werte“ gibt es nicht und schon gar nicht die EU-europäischen
im Unterschied zu den außer-EU-europäischen. Werte, Erfahrungen und Deutungen
gehören zusammen. Aber Werte bilden keine Systeme. Sie werden geglaubt,
getragen und verbreitet. Und doch bin ich dafür,
dass wir in der Europäischen Union die Diskussion darüber führen, wie wir uns
diese Europäische Union wünschen, nicht zuletzt ihr Verhältnis zu Europa und
der Welt und gerade zu jenen in der EU, in Europa und in der Welt, denen ein
selbstbestimmtes Leben in Würde am meisten verstellt ist. Samo saboi rasumejetsa –
was sich von selbst versteht - ist, dass ich in diese Debatte mit „meinen“
sozialistischen Werten Freiheit,
Gleichheit und Solidarität, Emanzipation, Gerechtigkeit, Erhalt der Natur und
Frieden eintrete. - Wertedebatte? –
OK, wenn Sie eine politische Debatte über politische Ziele meinen. - Debatte über „europäische
Identität“? Meinen Sie etwa „EU-europäische Identität? - OK, aber nicht als
Debatte über „kulturelle Identität“? Denn welche soll das sein? Wenn wir eben über Ost-
und Westeuropa, christlich-jüdische, römisch-griechische Traditionen geredet
haben? Und was ist mit jenen in den Pariser Vororten, die diese Traditionen
nicht haben, aus ehemaligen französischen Kolonien sind? Sind das keine Europäerinnen
und Europäer trotz Geburtsort Saint Denis? Und wie ist das mit jenen Millionen
Menschen in und aus der Türkei, die sich Europa bzw. der Europäischen Union
zugehörig sehen? - Europa und erst recht die
EU haben keine natürlichen Grenzen. Ihre Grenzen sind also politisch zu
bestimmen und das muss demokratisch erfolgen. Ergo: Ich will eine
Debatte über die EU-europäische Identität, aber als politische Debatte, weil es um die Ausprägung einer politischen Identität
geht. Ich werbe also für eine
Diskussion der Bürgerinnen und Bürger über eine EU, die sie für wünschenswert
halten. Und selbstverständlich werden die Bürgerinnen und Bürger als
Individuen diese Diskussion ausgehend von jenen Werten und jener Tradition
aus führen, die ihnen wichtig sind, denen sie sich verbunden fühlen. Wie ich
an Freiheit, Gleichheit und Solidarität, Emanzipation, Gerechtigkeit,
Erhalt der Natur und Frieden hänge und an „meinem“ demokratischen
Sozialismus. Wenn die Bürgerinnen
und Bürger erleben, dass sie die Entwicklung der Europäischen Union gestalten
können und dass die EU dafür da ist, ihnen ein selbstbestimmtes Leben in Würde
zu ermöglichen, werden sie eine politische EU-Identität ausprägen. Und zu
diesem politischen Prozess gehört die Bestimmung des eigenen Verhältnisses und
des Verhältnisses der EU zu den anderen außerhalb der EU. Die Haltung zum
EU-Beitritt der Türkei ist keine Entscheidung nach kultureller Identität,
sondern eine politische Entscheidung, die demokratisch zustande kommen muss. Ich halte es für
politisch gefährlich, ja verantwortungslos, in der Frage nach einer
EU-Erweiterung oder nach dem Verhältnis zu anderen Ländern und Völkern mit
„kultureller Identität“ zu argumentieren. Werte hin und Werte
her, Identität hin und Identität her, ich könnte gut mit einer Europäischen
Verfassung leben, die eine Präambel und einen Geist hat, wie sie der polnische
Publizist Stefan Wilkanowicz formuliert hat:
"Wir Europäerinnen
und Europäer wollen … im
Bewusstsein des Reichtums unseres Erbes, das aus den Errungenschaften des
Judaismus, des Christentums, des Islam, der griechischen Philosophie, des römischen
Rechts und des Humanismus, der sowohl religiöse als auch nichtreligiöse
Quellen hat, schöpft, im
Bewusstsein des Wertes der christlichen Zivilisation, welche die Hauptquelle
unserer Identität ist, im
Bewusstsein der Fälle von Verrat, der an diesen Werten von Christen und
Nichtchristen begangen wurde, eingedenk
des Guten und des Bösen, das wir den Bewohnerinnen und Bewohnern anderer
Kontinente gebracht haben, im
Bedauern der Katastrophen, die durch totalitäre Systeme, die unserer
Zivilisation entsprangen, verursacht wurden, …
unsere gemeinsame Zukunft bauen …“
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